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Eigentlich sind wir doch gleich

Es war mal wieder Reitabzeichen-Zeit. Theorie büffeln war angesagt. Und wie in jedem Jahr, lautes Stöhnen und Murren, dass man die ganzen Knochen und Teile des Exterieurs auswendig lernen musste. Eine fixe Schülerin stellte dann fest: „Auf den ersten Blick kann man sagen wir Menschen und die Pferde sind gleich! Sogar die Namen der Knochen sind fast alle gleich.“

Fürs erste reichte ihnen diese Erkenntnis, um sich viele Dinge leichter merken zu können, aber ist es wirklich so? Sind wir eigentlich gleich gebaut bis auf den kleinen Unterschied, dass wir Menschen eben auf zwei Beinen gehen und die Pferde auf vieren?

Auf den ersten Blick kann man schon sagen, wir sind gleich. Rein anatomisch betrachtet gibt es keine großen Unterschiede zwischen Pferden und Menschen. Ein paar Unterschiede bestehen allerdings schon. Denken wir nur an das fehlende Schlüsselbein beim Pferd, der fehlende Schwanz bei uns Menschen (verwachsen zum Steißbein) oder den Unterschied zwischen zwölf Rippenpaaren beim Menschen und die acht echte und zehn unechte Rippenpaare beim Pferd (bedingt durch andere Lebensbedingungen in der Steppe und als Fluchttier). Wenn wir dann aber den Blick über die reinen Knochen hinaus heben, werden größere Unterschiede erkennbar. Spätestens der Blick auf die unterschiedliche Biomechanik zeigt dann eine enorme Verschiedenheit. Gut ist, dass diese Themen für die ersten Reitabzeichen nicht beherrscht werden müssen.

Die Tatsache, dass wir angefangen haben, aufrecht zu gehen, hat unsere Biomechanik total verändert. Die Vorderbeine eines Pferdes sind so konstruiert, dass sie mit ihrer Säulenform ausschließlich zum Tragen vorgesehen sind, während die Hinterbeine schon durch die Stellung der Gelenke für den Schub sorgen. Unsere Hinterbeine sind stabil und für aufrechten, gleichgewichtshaltenden Stand umgebaut worden. Schon kleinste Veränderungen der Körperstabilität müssen in Millisekunden erkannt und gleichzeitig ausgeglichen werden. Denn unserer Vorderbeine wurden zu multifunktionellen Greif-, Dreh-, Heb- und Arbeitswerkzeugen umfunktioniert. Beobachtet mal ein kleines Kind, das eben laufen gelernt hat und gebt ihm ein schwereres oder großes Spielzeug in die Hand, es wird nach dem Gleichgewicht suchen, hinfallen, neu suchen und schwanken und wanken wie ein Grashalm im Sturm. Selber Lust es auszuprobieren? Setzt euch ein Kind auf die Schultern, schließt die Augen und versucht auf einer Kreidelinie geradeaus zu gehen. Spätestens wenn das Kind obenauf sich noch zweimal nach rechts und links umdreht wird es klar wieviel unsere Muskeln tagtäglich an winzigen Ausgleichsbewegungen leisten müssen – von denen wir nicht mitbekommen – um unseren aufrechten Gang zu ermöglichen.

Beim Menschen und beim Pferd haben die Schulterblätter nur durch eine bindegewebige Verbindung Kontakt zum Brustkorb. Die dazugehörigen Muskeln werden beim Menschen deutlich weniger beansprucht, da im Gegensatz zum Vierbeiner allein diese Muskeln den kompletten Rumpf tragen müssen. Der Rumpf wird beim Menschen durch eine Vielzahl von Muskeln stabilisiert und der Schulterblattmuskulatur fällt keine besonders große Bedeutung zu. Das rührt auch daher, dass die Schulterblätter keine rein stabilisierende Funktion haben, denn wir stützen uns ja nicht dauerhaft auf unseren Händen ab. Auch müssen die Schulterblätter nur das Gewicht unserer Arme gehen die Schwerkraft tragen und nicht den kompletten Rumpf wie beim Pferd. Was bedeutet dies nun für unser Training beim Reiten? Ein Sattel muss passen, muss regelmäßig kontrolliert und angepasst werden. Er darf nicht auf die Schulterblätter drücken, er muss ihnen genügend Freiheit lassen sich zu bewegen und die Muskulatur ausbilden zu können, die benötigt wird, so dass das Pferd nicht nur seinen eigenen Rumpf, sondern auch noch das Reitergewicht gut und schadenfrei tragen kann.

Die Bauchmuskulatur spielt sowohl beim Menschen, als auch beim Pferd eine entscheidende Rolle denn wir benötigen sie zur Stabilisation der unteren Wirbelsäule. Durch den langen Rücken der Pferde und die unterschiedliche Einwirkung der Schwerkraft, ist die Rolle der Bauchmuskulatur bei den Vierbeinern allerdings noch bedeutender. Das Gewicht des Reiters muss zusätzlich zu dem der Verdauungsorgane getragen werden. Der oftmals sehr lange Rücken der heutigen Reitpferde und die dadurch vermehrten Hebelwirkungen auf die Wirbelsäule (durch die Schwerkraft), muss die Bauchmuskulatur durch gezieltes Training sinnvoll aufgebaut und erhalten werden. Sie ist rund um die Uhr im Einsatz. Unsere Bauchmuskulatur hingegen muss eher nur beim Stehen, Gehen und Heben arbeiten, schon die Nachtruhe gibt ihr die Möglichkeit sich 8 Stunden zu entspannen und zu regenerieren.

Der Umstand, dass beim Pferd das Kiefergelenk und das Kreuzbein durch zwei große Muskeln und bindegewebige Verbindungen direkt miteinander verbunden sind, verwundert sicherlich im ersten Moment. Allerdings macht es dann aber deutlich, wie sehr die einzelnen Punkte eines losgelassenen Pferdes, beschrieben in der Literatur, tatsächlich miteinander verwoben sind und im Zusammenhang stehen. Kann die Muskulatur rund um das Kreuzband nicht gleichmäßig an und abgespannt werden, wird der Schub aus der Hinterhand nicht richtig übertragen. Der Schweif des Pferdes wirkt dadurch festgehalten. Durch die gleichmäßige Übertragung von Bewegung durch den Pferdekörper auch an das Kiefergelenk wird die umgebende Muskulatur dort ebenfalls gelockert. Das Pferd beginnt die Kaumuskulatur zu entspannen, die Absonderung von Speichel aus den Drüsen wird erleichtert und wir sehen ein zufrieden kauendes Pferd mit leicht schaumigem Speichelfilm am Maul.

Unsere Gliedmaßen und die der Pferde sind rein anatomisch nahezu identisch. Grundlegend unterschiedliche jedoch die Funktion. Während wir über jeweils zehn Finger und Zehen verfügen, sind diese bei den Pferden fast komplett verkümmert. Es ist nur noch das jeweils dritte Endglied vorhanden. Diese vier „Zehen“ tragen das gesamte Gewicht des Pferdes. Durch diesen Umstand werden die Hand- und die Fußwurzeln funktionell ganz anders belastet als beim Menschen. Daher ist auch der relativ komplexe Fesselträgerapparat immens wichtig. Nun ist sicherlich nachvollziehbar, warum genau dieser so wichtige Fesselträgerapparat so anfällig für Erkrankungen und Entzündungen ist. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und Sekunde ruhen auf vier Stelzen das Gewicht von 200 kg oder auch mal über 700 kg.

Vielleicht wird es so nochmal klarer, wie wichtig eine gute und solide Ausbildung von Pferd und Reiter ist und dass die Skala der Ausbildung der FN hier als maßgebliche Leitlinie herangezogen werden sollte damit die Pferdegesundheit auch auf Dauer sichergestellt wird. Ein Pferd, das nicht geradegerichtet, taktmäßig und losgelassen gehen kann, wird Verletzungen davontragen und mit Gelenk- und Rückenproblemen zu kämpfen haben.

Es gibt viele Beispiele, dass sich die Funktion der Muskulatur trotz sehr ähnlicher anatomischer Verhältnisse biomechanisch gesehen komplett verändert und den Bedürfnissen der jeweiligen Art angepasst hat. Vielleicht passt dazu dann auch die Idee des jüngsten Reitabzeichenteilnehmers ganz gut: „Wenn doch Menschen und Pferde so gleich sind, dann sollten wir Menschen vielleicht auch viel mehr extra Sport machen um uns fit zu halten, so wie wir die Pferde longieren und freispringen lassen“. Aber das ist nun doch ein anderes Thema… Vielleicht beim nächsten Mal.